Kultur und Austausch

Tiere in Literatur + Volksglauben (Teil 1):
Insekten und 'ähnliches Getier':

(Japan Forum, September 2002, S. 1-2)


Dass Kranich und Schildkröte für langes Leben stehen, ist vielen bekannt. Und dass ein Mandarinentenpaar traditionell als Symbol ehelicher Harmonie gilt, dürfte ebenfalls den meisten unserer Leser vertraut sein. Doch wussten Sie, dass auch Tiere wie die Seegurke (namako) und der Oktopus (tako) in der Dichtung auftauchen, wobei Letzterer wegen seines seltsamen Aussehens bei den frühen Haiku-Dichtern auf besonderes Interesse stieß? Oder dass der Maulwurf angeblich deswegen heutzutage sein Leben unter der Erde fristen muss, weil er sich einst - geblendet von gleißender Sonne - mit dem unartigen Gedanken trug, diese mit Pfeil und Bogen vom Himmel herabzuschießen? Wenn Ihnen dies auf den ersten Blick neu ist, sind Sie hier richtig, um zumindest einen kleinen, ganz unbiologischen Einblick in die japanische Tierwelt zu erhalten, der auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Die Insektenwelt Japans entspricht weitgehend derjenigen der gemäßigten Klimazone in Europa, auch wenn es einige kleine Unterschiede gibt und in Japan manche zusätzliche tropische Arten zu finden sind. Bereits in den ersten erhaltenen Geschichtswerken des 8. Jahrhunderts und frühen Gedichtsammlungen wie der Gedichtanthologie Manyôshu („Sammlung der zehntausend Blätter“, 8. Jh.) begegnen uns Insekten, und sie tauchen auch in moderner Lyrik auf. Besonders beliebt sind Libelle, Leuchtkäfer, Zikade und Grille, manch anderes Tier hat im Laufe der Jahrhunderte jedoch ebenfalls Eingang in die japanische Literatur gefunden. Gerade aufgrund der großen Beachtung, die man in Japan den Jahreszeiten schenkt, sind die für den jeweiligen Abschnitt typischen Tiere ein wichtiges inhaltliches Kriterium zur Bestimmung des zeitlichen Rahmens und zur Schaffung einer entsprechenden Atmosphäre. Schmetterlinge, Seidenraupen, Bienen und Bremsen beispielsweise werden gern dem Frühling zugeordnet, Motten, Fliegen, Mücken, Ameisen, Hirschkäfer und Leuchtkäfer kennzeichnen den Sommer, ehe verschiedene Zikadenarten den Spätsommer und Herbst einläuten, in dem Grillen, Heuschrecken und Libellen reichlich vertreten sind. Dieser zeitliche Rahmen ist allerdings nicht absolut zu setzen, zumal der alte Mondkalender unserer heutigen Monatszählung voraus war und sich damit die ursprünglichen Jahreszeitengrenzen inzwischen deutlich verschoben haben.

Im Kojiki („Aufzeichnungen alter Begebenheiten“, 712) wird berichtet, wie das Ur-Götterpaar Izanagi und Izanami bei seiner hochzeitsähnlichen Vereinigung die japanischen Inseln zeugte. Die größte dieser Inseln trug den Namen Ôyamato Toyo Akizu Shima, wobei das Wort akizu (bzw. akitsu) „Libelle“ bedeuten soll. Forscher gelangten bei der Untersuchung dieser Mythen in ihrer Verbindung zu Episoden des Nihongi / Nihon shoki („Annalen Japan“, 720) zu der Ansicht, dass die Libelle (tombo) sowohl die Macht des frühen Yamato-Hofes symbolisiere als auch das dazugehörige Territorium. Die Zuneigung der Japaner zu diesem Insekt, das im Volksglauben als Geist der Reispflanze und Vorbote eines fruchtbaren Herbstes gilt, kommt in vielen Gedichten zum Ausdruck. Das vermutlich bekannteste ist Akatombo („Rote Libelle“) von Miki Rofu (1889-1964), das in seiner Vertonung jedem Kind vertraut ist. Auch ein weit verbreitetes traditionelles japanisches Spielzeug ist nach diesem Insekt benannt: die sog. taketombo („Bambuslibelle“): Zwei Holzstückchen sind in T-Form dabei in rechtem Winkel zusammengefügt; man dreht den dünnen, langen T-Schaft wie einen Quirl schnell zwischen beiden Handflächen und lässt dann plötzlich los, so dass die taketombo hochsteigt und wie eine Libelle durch die Luft schwirrt. Es gibt die verschiedensten Libellenarten, und manche tragen recht eindrucksvolle Namen, z.B. „Totengeistlibelle“ (shôryôtombo) - ein Hinweis darauf, dass diese mit den Geistern der Verstorbenen in besonderer Verbindung stehen soll. Die yamma genannte Libellenart taucht - so berichtete der Japankenner Lafcardio Hearn (1850-1904, jap. Name: Koizumi Yakumo) - in manchen alten Liedern auch als Bezeichnung für Samurai auf, da das Haar der jungen Krieger in der damaligen Zeit in einem Libellenknoten frisiert wurde.

Ebenfalls sehr beliebt ist der Leuchtkäfer (hotaru), von dem es ca. zehn verschiedene Arten in Japan gibt. Die Hofdame Sei Shonagon notiert in ihrem Makura no sôshi („Kopfkissenbuch“, Ende 10. Jh.) ihre Vorliebe für das geheimnisvolle Funkeln der Leuchtkäfer in einer mondlosen Sommernacht. Und tatsächlich traf man sich einst gern abends zur Leuchtkäfer-Schau am Ufer eines Gewässers oder auf einem Boot - ein gerade in der Edo-Zeit (1603-1867) besonders populärer Zeitvertreib, zu dem man gern auf Berge wie den Ishiyama am Ufer des Biwa-Sees stieg oder auf dem Ujigawa durch Kyôto fuhr. Wollte man den Tierchen nicht selber hinterherjagen, konnte man bei Händlern Leuchtkäfer im Käfig erstehen. Der Volksglaube, der Geist einer lebenden oder bereits verstorbenen Person könne die Gestalt eines Leuchtkäfers annehmen, ist vermutlich chinesischer Herkunft. Einer anderen Legende zufolge verkörpert der Leuchtkäfer den Geist tapferer Krieger wie Minamoto no Yorimasa (1104-1180) oder Akechi Mitsuhide († 1582), die einen tragischen Tod gefunden haben. Aus China stammt auch die Japanern wohlbekannte Geschichte vom armen Gelehrten, der sich kein Lampenöl leisten konnte und sich daher viele Leuchtkäfer fing, sie in eine Papierlaterne setzte und mit Hilfe dieser „Bio-Lampe“ seine Studien auch nach Einsetzen der Dämmerung fortzuführen vermochte. Im Manyôshu taucht der Leuchtkäfer überdies als Metapher für leidenschaftliche Liebe auf, und im Genji monogatari (Anf. 11. Jh.) schildert Murasaki Shikibu, wie Genjis jüngerer Halbbruder mit dem bezeichnenden Namen Hotaru seinen ersten Blick auf die schöne Tamakazura beim Licht der Leuchtkäfer erhaschen konnte - eine wirklich romantische Vorstellung.

Den Schmetterling (chô) sucht man im Manyôshu allerdings vergebens, obwohl er in späterer Zeit gern bedichtet wurde. Manche führen dies darauf zurück, dass - wie im Nihon shoki vermerkt - die Regierung 644 eine daoistische Schulrichtung verbot, die die Larven des Schwalbenschwanzes anbetete. Die filigrane Zartheit des Schmetterlings mit seinem lautlosen Flügelschlag inspirierte manchen Poeten, zumal je nach Schmetterlingsart die Flügel eine höchst anregende Farbkombination mit der Pflanzenwelt bilden können. Murasaki Shikibu berichtet im Genji monogatari, dass Schmetterlinge Genjis Palast Rokujoin schmückten, und ab dem 14./15. Jahrhundert waren Schmetterlinge ein häufiges Motiv auf Möbeln und Waffen. Auch Schmetterlinge sollen die Seelen Verstorbener beherbergt haben; eine Legende erzählt von einem weißen Schmetterling, der am Krankenbett eines alten Mannes auftaucht und sich als Geist seiner einstigen großen Liebe Akiko entpuppt, die seine Seele an der Schwelle zum Tod abholen möchte, um dann endlich mit ihm vereint zu sein.

Bienen und Wespen werden in Japan allgemein hachi genannt. Anfangs scheinen sie den Japanern Angst eingeflößt zu haben. Dies zumindest legen die ersten Berichte über Bienen im Kojiki nahe, in denen die Gottheit Ôkuninushi no mikoto als Teil eines Initiationsritus mit einem Zimmer voller Bienen konfrontiert wird. Auch bei der Lektüre des Konjaku monogatari shu („Sammlung von Erzählungen aus nun schon vergangener Zeit“, Anf. 12. Jh.) erhält man einen ähnlichen Eindruck. Eine andere Legende erzählt die Geschichte einer dankbaren Biene: Weil ein Krieger sie aus einem Spinnennetz befreit, steht sie ihm daraufhin gemeinsam mit zahlreichen Artgenossen im Kampf gegen seine Feinde bei und sorgt dafür, dass er als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht. Honig war lange Zeit ein seltenes Gut und daher wohlhabenden Schichten vorbehalten, die ihn - chinesischen Vorbildern folgend - als kostbare Medizin und Elixier des Lebens konsumierten. Doch spätestens im Laufe der Edo-Zeit scheint sich auch die breitere Bevölkerung mit diesen Tieren angefreundet zu haben, als sich einst die in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts aus Korea übernommene Bienenzucht dank der Anleitungen zur Honiggewinnung in naturgeschichtlichen und landwirtschaftlichen Schriften in ganz Japan verbreiten konnte.

Während Bienen wie auch Ameisen im Abendland bereits frühzeitig als Symbol des Fleißes auftauchen, ist diese Vorstellung in Japan weniger präsent. Die Ameise (ari), die weder in den frühen Mythen und Legenden noch im Honzô wamyô (918), der ältesten Naturkunde Japans, genannt wird, findet später wegen ihres etwas wirr erscheinenden Hin- und Herlaufens Erwähnung, z.B. in Yoshida Kenkôs Tsurezuregusa („Allerlei aus Mußestunden“, um 1330), oder wird aufgrund ihrer Kleinheit angeführt. So erzählt Sei Shônagon davon, wie es mit Hilfe zweier Ameisen gelungen sei, einen Faden durch ein winziges Loch in einem Edelstein zu ziehen und damit eine knifflige Aufgabe zu lösen. In der Dichtung ist die Ameise kein häufiges Thema, erscheint aber in einigen Haiku von Yosa Buson (1715-1783), Kobayashi Issa (1763-1827) u.a. Zwei Ameisengeschichten finden sich auch bei Lafcardio Hearn, die jedoch eher chinesischen Quellen zugeschrieben werden.

Besonders häufig tauchen in Gedichten Zikaden (semi), Grillen (kôrogi) und zahlreiche Artverwandte auf. Dabei wurden die Begriffe nicht immer eindeutig getrennt. Beispielsweise war kôrogi Literaturwissenschaftlern zufolge im Manyôshu Synonym für alle zirpenden Insekten, aber auch das Wort kirigirisu („Wiesenzikade“) diente in alten Zeiten als Bezeichnung für Grille bzw. für Insekten, die im Herbst zirpen, und wurde nur in der Heian-Zeit (794-1192) in seiner speziellen Bedeutung verwendet. Die Zikade erscheint in der japanischen Dichtung der Nara- (710-794) und Heian-Zeit als Herbsttier und symbolisiert hier, sicherlich beeinflusst von der chinesischen Literatur, Einsamkeit und Melancholie. In den Haiku der Edo-Zeit (1603-1867) hingegen ist sie Ausdruck blühenden Lebens im Hochsommer und gilt heute den meisten Japanern als Sommerinsekt. Durch die Fähigkeit, sich zu häuten, konnten sie einst auch für den Eintritt in ein neues Leben stehen. - Die Grillen wurden in der japanischen Literatur mit der Ankunft des Herbstes assoziiert; man konnte sie - ähnlich wie Leuchtkäfer - in der Edo-Zeit bei Händler in Bambuskäfigen erstehen. Allein im Kokin(waka)shu („Sammlung von Gedichten aus alter und neuer Zeit“, Anf. 10. Jh.) sind zahlreiche verschiedene Grillenarten genannt, deren Ruf vom glöckchenähnlichen Bimmeln der matsumushi bis zum durchdringenden Lachen der higurashi reicht. Das Zirpen der Maulwurfsgrille (kera) wurde in Japan lange Zeit fälschlicherweise dem Regenwurm (mimizu) zugeschrieben, da beide in nahezu der gleichen Umgebung lebten. Daher begegnet uns die Vorstellung, Regenwürmer hätten eine zirpende Stimme (mimizu naku), in Gedichten und Volkserzählungen.

Regenwürmer und Blutegel gehören zu den Ringelwürmern und nicht zu den Insekten, aber ebenfalls zur großen Kategorie der Gliedertiere. Auch sie werden im Honzô wamyô erwähnt. Doch schon zwei Jahrhunderte vorher erscheint der Blutegel (hiru) bereits in der japanischen Mythologie: Sowohl im Kojiki als auch im Nihongi wird berichtet, dass die beiden Gottheiten Izanagi und Izanami ein „Blutegel-Kind“ (hiruko) bekommen hätten, das, als ihm selbst nach drei Jahren noch keine Beine gewachsen waren, schließlich in einem Boot aus Schilfrohr ausgesetzt wurde. In der japanischen Bevölkerung erfreute sich der Blutegel allerdings keiner großen Beliebtheit und taucht in der Literatur daher eher selten auf. Erwähnung findet er dennoch, z.B. in der Erzählung Kôya hijiri („Der Wanderpriester“, 1900) von Izumi Kyôka (1873-1939) und in einem Haiku von Matsuo Basho, in dem er - Meister in der Einbeziehung von Alltagsdingen - die Bisse der Blutegel anspricht, unter denen gerade die bäuerliche Bevölkerung bei ihrer Arbeit in den Nassreisfeldern zu leiden hatte. In der Medizin wurde der Blutegel früh verwendet, allerdings therapierte man in Japan wie China gewöhnlich nicht durch Ansetzen, sondern mit Blutegelsubstanzen und -pülverchen. Auch der Regenwurm (mimizu) begegnet uns in Ostasien als Heilmittel. In China sollen einst getrocknete Regenwürmer zur Fiebersenkung verwendet worden sein, was die Japaner ebenso übernahmen wie die Praxis, mit Hilfe des Äußeren eines Regenwurms Rückschlüsse auf den Wechsel der Jahreszeiten zu ziehen. Derartige Prognosen scheinen heute zwar längst aus der Mode gekommen zu sein, in der traditionellen chinesischen Medizin jedoch wird der Regenwurm immer noch bei speziellen Beschwerden eingesetzt .

Quälgeister wie Mücken und Moskitos, Fliegen, Bremsen, Flöhe und Läuse tauchen erst ab der Edo-Zeit häufiger in der Literatur auf, vor allem bei Poeten wie MATSUO Bashô (1644-1694), YOSA Buson und beim humvorvollen KOBAYASH Issa, aber auch bei Dichtern der Moderne wie Masaoka Shiki (1867-1902). Positivere Assoziationen weckt die Eintagsfliege (kagerô), nach der sich die Verfasserin des Kagerô nikki („Tagebuch einer Eintagsfliege“, um 980), eine Nebenfrau des Fujiwara Kaneie, benennt: Hier schwingt der Aspekt der Vergänglichkeit alles Schönen mit, zumal kagerô, mit anderen Schriftzeichen notiert, auch die romantische Bedeutung von „Sommerfäden“ oder „Flimmern der Luft“ als Hinweis auf den Altweibersommer in sich trägt.

Wenig geliebte Tierchen wie Kakerlaken und Spinnen kommen beispielsweise in Werken des Schriftstellers Ihara Saikaku (1642-1693) vor. In seinem Roman Kôshoku ichidai otoko („Der Mann, der die Liebe liebte“, 1682), schildert er, dass ein verarmter Freund der Hauptfigur u.a. vom Verkauf selbstgefangener Spinnen lebt, sei es doch gerade Mode, Spinnen zum Fliegenfang einzusetzen. Die Spinne (kumo) ist auch im japanischen Volksglauben eher negativ besetzt, und es gibt verschiedene makabere Geschichten, die Nô- und Kabuki-Stücken als Stoff dienten. Im Märchen über den Knaben Kintaro kämpft der für seine außer-gewöhnlichen Körperkräfte bekannte Titelheld gegen eine bedrohliche Riesenspinne und erschlägt sie schließlich mit einem Baum. Bei Miyazaki Hayao allerdings ist die Spinne, die er in seinem preisgekrönten Zeichentrickfilm Sen to chihiro no kamikakushi („Spirited Away“, 2001) auftreten lässt, besonders weise und damit weniger furchterregend. Das Netz der Spinne kann zur tödlichen Falle werden, gern wird es jedoch in der japanischen Literatur auch wegen seiner Schönheit gerühmt, wenn beispielsweise die Sonne auf das von Tautropfen wie von Edelsteinen benetzte Kunstwerk fällt, wie es Funya no Asayasu in einem ins Kokin(waka)shu aufgenommenen Gedicht beschreibt.

Betrachtet man die künstlerischen Darstellungen von Insekten in Japan im Vergleich zu europäischen Zeichnungen, so fällt auf, dass man sich in Japan weit seltener als im Westen um eine detaillierte, minutiöse Wiedergabe aller Bestandteile des Tierkörpers bemüht. Vielmehr versucht der Künstler, das Wesen des Tiers mit wenigen Pinselstrichen in seiner Eigentümlichkeit und seinen typischen Bewegungen zu erfassen. Dadurch erscheint das Bild besonders kraftvoll und lebendig, so dass der Betrachter fast glaubt, das Tier vorbeihuschen zu sehen. Aber keine Angst: Es wird Ihnen nichts tun!

(Siehe auch Teil 2: "Vögel", in: Japan Forum Vol. 93/Dez. 2002
und Teil 3: "Der Affe", in: Japan Forum Vol. 105/Dez. 2003)

 

 

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