Kultur und Austausch

Sommer in Japan:

(Japan Forum, Juli 2001, S. 1-2)
  

Wer sich für seine Japanreise den Sommer ausgesucht hat, wird angesichts dieser Entscheidung von Kennern der dortigen klimatischen Verhältnisse oft mit einem mitleidigen Blick bedacht. Und tatsächlich ist gerade der heiße und feuchte Sommer nicht unbedingt die ideale Zeit für einen Besuch in den Haupttouristengebieten um Tôkyô, Kyôto und Nara oder weiter südlich. Dennoch hat diese Zeit manches zu bieten, das den Aufenthalt lohnt, von zahlreichen Festen und Bon-Tanz bis hin zu kulinarischen Genüssen.

Nach dem alten, einst aus China übernommenen Mondkalender (kyureki) bezeichnete man als Sommer den 4. bis 6. Monat des Jahres, genauer gesagt: den Zeitraum vom 7. (rikka) bis zum 13. (risshu) der insgesamt 24 Jahresabschnitte (sekki). Rikka ("Sommerbeginn") entspricht ungefähr dem 6. Mai unseres Sonnenkalenders, der Herbstbeginn risshu der Zeit um den 8. August herum. Noch heute sind diese Bezeichnungen im japanischen Bewusstsein verankert, auch wenn die dafür festgelegten Daten der im Raum Tôkyô vorherrschenden Witterung um rund vier Wochen vorausgehen und als Sommer inzwischen - wie im Westen - die Monate Juni, Juli und August gelten.

In dieser Zeit wird Japan von einer pazifischen Hochdruckzone beeinflusst. Der Zusammenprall kalter Polarwinde und subtropischer, feuchtwarmer Luft aus dem südpazifischen Raum erzeugt zuerst ab ungefähr Anfang Juni eine mehrwöchige Regenzeit, bei der von Süden nach Norden starke Monsunregenfälle West- und Zentraljapan überziehen. Sobald sich der Einfluss der kalten Luftströmungen aus dem Norden abschwächt, setzt ab Mitte Juli der eigentliche Sommer mit seiner heißen Trockenperiode ein. Die Temperatur steigt auf 35°C oder mehr, auch nachts kühlt es oft nur geringfügig ab. Erst die Taifune, die gegen Ende August beginnen, läuten allmählich den Herbst ein.

Die für die Regenzeit stehenden Schriftzeichen (tsuyu bzw. baiu = "Pflaumenregen") verweisen auf die im Juni reif werdenden grünen Früchte des Pflaumenbaums (ume, eig. die japanische Aprikose), aus denen der erfrischende Pflaumenlikör (umeshu) gewonnen wird. Ansonsten hat die Regenzeit auf den ersten Blick wenig Poetisches an sich. Vielmehr führt der starke Niederschlag besonders in südlicheren Regionen immer wieder zu Überschwemmungen und Erdrutschen. Und aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit von bis zu 80% kann es leicht passieren, dass Kleidungsstücke, Schuhe, Lederkoffer oder ähnliche Gegenstände zu schimmeln beginnen. Daher darf man während der Regenzeit auf keinen Fall vergessen, gut und gründlich zu lüften, will man nicht später beim Öffnen der Schränke eine üble Überraschung erleben.

So unangenehm die Regenzeit auch sein mag, so wichtig ist sie zugleich für die Wasserversorgung und den Reisanbau in Japan. Da der Nassreis, der erst mit Beginn der Regenzeit angepflanzt werden kann, bereits vor Einsetzen der Herbsttaifune geerntet werden sollte, müssen die Bauern die wenigen für den Reisanbau zur Verfügung stehenden Monate genau planen, um die Ernte rechtzeitig einzubringen. Die Texte mancher Reispflanzlieder belegen, wie mühevoll und arbeitsreich diese Zeit für die ländliche Bevölkerung ist.

Typische Repräsentanten des Frühsommers in der traditionellen Kunst und Literatur, die man heutzutage eher mit dem Frühling assoziiert, sind die für ihre vollen, Fruchtbarkeit symbolisierenden Blütendolden bekannte japanische Glyzinie und die Stockmalve, vor allem aber die (Baum-)Päonie. Sie war die Lieblingsblume des Dichters und Malers Yosa Buson (1716-1784), und bereits rund eintausend Jahre zuvor hat der große chinesische Poet Bo Juyi (772-846) sie in seinen Versen besonders gepriesen. Mit ihren prachtvollen roten, rosafarbenen und weißen Blüten verkörpert sie Würde, Vornehmheit und irdisches Glück, aber auch die ganz besondere Schönheit sinnbetörender Weiblichkeit, gegebenenfalls sogar Stolz und Selbstzufriedenheit.

Am 7. Tag des 7. Monats wird mit Tänzen und Blumenschmuck das Sternenfest (Tanabata) begangen, das zu den fünf heiligen Festen Japans gehört. Tanabata liegt die Sage von der Weberprinzessin Ori-hime (Vega) und dem Rinderhirten Hikoboshi (Altair) zugrunde, die aus Liebe zueinander ihre Arbeit vernachlässigt hatten und daher vom erzürnten Himmelskaiser getrennt worden waren; angeblich können sie sich seitdem nur einmal pro Jahr an eben diesem 7.7. wiedersehen. Seit der Muromachi-Zeit (1392-1573) existiert der Brauch, am Tanabata-Fest Gedichte mit privaten oder beruflichen Wünschen auf farbige Papierstreifen zu notieren und an Bambus- oder Weidenzweige zu hängen. Auf dem Lande stellt man überdies Papierpuppen her, die man - an Zweigen befestigt - am nächsten Tag im Wasser davontreiben lässt.

Vielerorts wird nach Ende der Regenzeit draußen vor der Haustür oder im Garten ein Glöckchen (furin) aufgehängt, das besonders abends, wenn ein leichter Wind durch die Gegend streicht, hell und leise klingelt. Es macht damit den ersehnten Lufthauch nach der Schwüle des Tages auch akustisch greifbar und suggeriert das Gefühl erquickender Frische. Eine leichte Abkühlung bringen überdies die Gewitter (yudachi), die gegen Abend auftreten können. Dennoch ist die sengende Hitze des japanischen Sommers gewöhnungsbedürftig, zumal im Ausgleich zu den hohen Außentemperaturen die Klimaanlagen in Gebäuden und Zügen oft so kalt eingestellt sind, dass man sich leicht erkälten kann.

Hokkaido sowie Tôhoku (Nord-Honshu) bleiben allerdings von den extremen Witterungsbedingungen des Sommers weitgehend verschont. Daher sind sie in der warmen Jahreszeit ein beliebtes und viel besuchtes Ferienziel. Auch das Ausland wird im Sommer gern bereist. Wer dazu nicht genügend Zeit hat, flüchtet vor der Hitze für ein bis zwei Tage in kühle Bergregionen, z.B. in die Gegend um Nagano oder in von Tôkyô rasch erreichbare Orte wie Karuizawa oder Hakone, die für ihre landschaftliche Schönheit berühmt sind. Nicht vergessen werden darf der Fuji-san als höchster und schönster Berg Japans, der in der offiziellen Aufstiegszeit (1. Juli - 31. August) Hunderttausende auf seinen Gipfel lockt.

Gern fährt man im Sommer an die See, um direkt im Meer oder in heißen Mineralquellen zu baden und dabei auf das Blau des Ozeans oder das frische Grün der Pflanzen zu schauen - beides Farben, die Wasser und damit den Eindruck belebender Frische vermitteln. Gerade Blau ist deswegen auf Sommerkimonos (yukata) und Sommergeschirr besonders häufig vertreten. Ähnliches gilt für Glas. So serviert man sashimi (in Scheiben geschnittenen rohen Fisch) oder andere kulinarische Köstlichkeiten in der heißen Jahreszeit oft wie auf Eis auf einer durchsichtigen Glasplatte.

Bei Hitze sind kalte Speisen und Getränke natürlich besonders beliebt. So wird der meist nur als Beilage verwendete Tofu im Sommer - gewürzt mit Sojasoße, Flocken des katsuobushi (getrockneter Blaufisch) und Ingwer - zum eigenständigen Gericht (hiya-yakko), das sich durch Leichtigkeit und Kalorienarmut auszeichnet. Gern gegessen werden überdies eisgekühlte Nudelgerichte wie hiyamugi (Weizennudeln) oder zarusoba (Buchweizen-nudeln). Sie werden - garniert mit getrockneten Algen (nori) - auf einem Bambustablett angeboten und vor dem Verzehr in eine spezielle Flüssigkeit aus Sojasoße (shôyu), süßem Reiswein (mirin) und japanischer Brühe (dashi) getunkt. Auch die Wassermelone (suika) ist aus der Sommerzeit nicht wegzudenken. Ihre Stücke dienen als Durstlöscher, wobei die Kerne mit einem speziellen Wassermelonen-Löffel (suika-spun) gezielt herausgeklaubt werden können.

Sommerfavoriten unter den Getränken sind mugicha, ein eisgekühlter, erfrischender Tee aus gerösteten Gerstenkörnern, sowie kakigôri, zerstoßenes Eis mit Sirup in verschiedenen Geschmacksrichtungen, z.B. mit Erdbeere (kôri-ichigo) oder süß gekochten Azuchi-Bohnen (kôri-azuchi). Abends trinkt man im Sommer neben Bier gern kalten Reiswein (hiyazake).

Doch nicht alles, was im Sommer angeboten wird, wird kalt serviert. Sehr populär ist bereits ab Mitte Mai die Bachforelle (ayu), ein Süßwasserfisch, der noch heute teilweise mit abgerichteten Kormoranen gefangen wird. Als besonderer Gaumenschmaus gilt er bei Feinschmeckern gegen Ende August bzw. Anfang September, wenn er eine Fettschicht ansetzt.

Ebenfalls sehr beliebt ist der wegen seines Reichtums an Vitamin A sehr gesunde Aal (unagi). Es existiert die Vorstellung, Aal könne einen vor Krankheiten und der Sommerhitze bewahren, sofern man ihn an einem bestimmten Tag (ushi no hi, eig. "Tag des Rindes" = Ende Juli/Anfang August) zu sich nehme. Man isst ihn als kabayaki, marinierten Grillaal, der auf Bambusstöckchen gespießt und in gesüßter Sojasoße (tare) über Holzkohle zubereitet wird. Diese Köstlichkeit, die längst nicht so fett ist wie Aal in Deutschland, sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Da es in Japan im Sommer schneller dunkel wird als in Deutschland, eignen sich die Sommerabende besonders gut für ein Feuerwerk (hanabi) und für das Beobachten von Leuchtkäfern (hotaru). Früher wurden diese regelrecht gejagt, und Schaulustige verfolgten dieses amüsante Spiel gern von Booten aus. So beschreibt beispielsweise Bashô:

       Leuchtkäferschau
   Der Bootsmann ist bezecht - schwankt
       wie sein Boot - beängstigend!

(aus: Bashô. Sarumino - Das Affenmäntelchen, S. 41. Übers.: G.S. Dombrady. Copyright © 1994, Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung Mainz)

Zum Teil wurden die eingefangenen Tiere in Käfigen auf dem Markt verkauft, doch inzwischen stehen sie unter Naturschutz und bleiben daher von derlei Jagden verschont.   

Stattdessen findet heutzutage bei Sommerfesten häufig ein Wettbewerb statt, bei dem Goldfische mit einem Papiernetz gefangen werden (kingyo-sukui). Überhaupt sucht man in der Hitze gern die Nähe des Wassers, das Kühlung verspricht. Daher tauchen Wellen, Gischtspritzer oder Fluss- und Bachläufe häufig als Sommermotive auf Kunstwerken auf: auf Wandschirmen und Bildrollen ebenso wie auf Lackwaren und Geschirr, Schwertstichblättern (tsuba) und Kimonostoffen, oft gemeinsam mit Glühwürmchen, Libellen oder anderen Tieren und Pflanzen des Sommers. Zu ihnen zählen u.a. Schnecken und Frösche, der Schwalbenschwanz-Schmetterling, Grillen und Zikaden. Der Sommer ist Insektenzeit, und in Bashôs berühmtem Haiku ist das Flimmern der Hitze indirekt fast körperlich zu spüren:

       Stille...!

  Tief bohrt sich in den Fels
       das Sirren der Zikaden...

(aus: Bashô. Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, S. 185. Übers.: G.S. Dombrady. Copyright © 1985, Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung Mainz)

In der Pflanzenwelt typisch sind z.B. die Sonnenblume, die Hortensie und die Lilie, die als eine von wenigen Blumen im Sommer wild blüht, Gerste und Wicken auf dem Felde sowie am Wasser die Wassermalve und Lotos. Letzterer steht als Sumpfpflanze mit seinen weißen und rötlichen Blüten auch für die aus der Verstrickung des diesseitigen Lebens unbeschadet hervorgehende Reinheit Buddhas.

Weniger bekannt ist der ebenfalls im Sommer blühende Steinsamen (murasaki), der bereits in frühester Zeit zur Herstellung der Farbe Purpur für Stoffe verwendet wurde, oder die Safran-Blüte, die seit der Heian-Zeit (794-1185) eine wichtige Rolle in der Kosmetik spielte. Ihre Blüten mussten am frühen Sommermorgen taufrisch gepflückt werden und dienten in getrockneter Form als Rohstoff für Lippen- und Wangenrot. Sie haben ihren Platz in der japanischen Literatur ebenso wie die Trichterwinde (asagao), die zwar im Sommer zu blühen beginnt, aber meist zu den sieben Herbstpflanzen gerechnet wird und so den Übergang in eine neue Jahreszeit andeutet.

Häufig begegnet uns das Motiv der kurzen Sommernacht. Jedoch steht im Mittelpunkt nicht die Nacht selber, sondern ihr rasches Verstreichen, das die Verliebten am frühen Morgen, wenn es hell wird, zur Trennung zwingt, sofern der heimliche Besucher nicht entdeckt werden möchte. Die Hofdame Sei Shônagon beschreibt um 1000 n.Chr. den besonderen Reiz einer solchen Nacht folgendermaßen:

   Ein heimliches Rendezvous ist im Sommer am interessantesten.
   Die Nacht ist kurz, und unerwartet beginnt es zu dämmern.
   Man hat gar nicht geschlafen! Türen und Fenster waren die Nacht
   über offen, und so kann man jetzt die Landschaft betrachten.
   Während sich die Liebenden immer noch nicht trennen können
   und miteinander flüstern, fliegt in der Nähe ein Vogel mit hellem
   Schrei vorbei.

("Rendezvous und Jahreszeiten" (Auszug), in: Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shônagon (S. 118). Copyright © 1952 Manesse Verlag, Zürich)

Bei diesem Vogel könnte es sich um den Nachtkuckuck (hototogisu) handeln, der in der japanischen Dichtung als Vertreter des Sommers eine wichtige Rolle spielt. Sein Name rührt von dem traurig klingenden Ruf her, den er meist des Nachts im Fluge ertönen lässt. Dementsprechend steht er für Einsamkeit, Melancholie und Sehnsucht und fungiert als Mahner an die Vergänglichkeit allen Seins.

Dennoch ist der Sommer normalerweise keineswegs eine Zeit besonderer Traurigkeit. Vielmehr nutzt man nach Ende der Regenzeit die warmen Abendstunden für zahlreiche Dorffeste, bei denen fröhlich gefeiert und getanzt wird. Besonders populär ist der Bon-Tanz (Bon-odori), der ursprünglich an O-bon - dem japanischen Totenfest (im Raum Tôkyô um den 15. Juli, in der Kansai-Gegend einen Monat später) - getanzt wurde, um die Seelen der Verstorbenen zu beruhigen und böse Geister zu vertreiben. Er existiert je nach Region in ganz verschiedener Ausprägung, wobei er sich in der Schrittfolge wie auch in der Form der Gewänder unterscheidet, und gibt inzwischen den ganzen Sommer über bei Festen den Rhythmus an. An ihm teilzunehmen ist ein Erlebnis der besonderen Art, für das sich eine Reise nach Japan trotz des heißen Klimas sicherlich lohnt.   

(Siehe auch Artikel "Sommerimpressionen", in: Japan Forum Vol. 89/August 2002)

 

 

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