Kultur und Austausch

Träume in Japan:

(Japan Forum, Januar 2002, S. 1-2)


Träume sind überwiegend visuell geprägte seelische Erlebnisse, die im Schlaf auftreten und an die wir uns nach dem Aufwachen z.T. nur bruchstückhaft erinnern können. Wir alle träumen mehr oder minder viel, doch bleibt uns meist der Inhalt nicht im Gedächtnis haften. Dabei kann es im Traum zu einer Umkehrung von Raum und Zeit, von Ursache und Wirkung kommen, auch kann er abrupt enden, was den Wunsch nach Auslegung des Gesehenen eventuell noch intensiviert.

Schon frühzeitig wurden in allen Kulturkreisen Träume interpretiert und mündlich oder schriftlich tradiert. Oft deutete man sie dabei als Offenbarung künftiger Geschehnisse, und auch in Japan entwickelte sich die Vorstellung, man könne Träumen Hinweise auf die Zukunft entnehmen - ein Gedanke, der, wie die zahlreichen privaten Internet-Seiten zur Traumdeutung belegen, noch heute keineswegs ausgestorben ist. Je nachdem, welche Bilder dem Träumer begegnen, werden diese als gute oder schlechte Vorzeichen gewertet.

Allerdings begibt man sich damit schnell in den Bereich der Spekulationen, die Interpretation liegt im Ermessen des Einzelnen, von dessen persönlicher Situation sie abhängig ist. Dennoch möchten wir Ihnen einige Deutungsmöglichkeiten von Trauminhalten nicht vorenthalten, übernehmen aber selbstverständlich keinerlei Garantie.

Beispielsweise werden Träume, in denen einem die Zähne ausfallen, als Vorboten einer nahenden Krankheit oder des Todes eingestuft; Reispflanzen, Affe, Tiger und Ratte gelten als schlechte Omina - es sei denn, die Ratten treten in großer Anzahl auf und symbolisieren dann erfolgreiche Zusammenarbeit. Eine Schlange - besonders wenn sie weiß und golden ist - sowie Elefant, Löwe, Schwein, Fuchs und Dachs gelten als glücksbringend. Hund, Katze und Pferd sind ambivalent: Ein Pferd, auf dem man reitet, steht dafür, dass man sein Ziel erreicht; wirft es einen hingegen ab, ist dies negativ zu werten. Hunde und Katzen, die beißen, heulen oder das Fell sträuben, warnen vor Krieg, Streit oder anderem Unglück; eine Katze, die sich jedoch das Gesicht wäscht und mit der Pfote winkt, verheißt eine finanzielle Glückssträhne, und ein Hund, der nur verschwommen zu sehen ist, ist ebenfalls ein gutes Zeichen, er kann z.B. einer Schwangeren eine leichte Geburt verheißen und, wenn man im Traum mit ihm spielt, die Vertiefung freundschaftlicher Kontakte ankündigen.

Noch heute ist vielen Japanern der bis in die Edo-Zeit (1603-1868) zurückreichende Brauch vertraut, in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar ein Bild des Schatzschiffs (takarabune) der Sieben Glücksgötter unter das Kopfkissen zu legen, um sich auf diese Art und Weise einen besonders glückbringenden Traum zu verschaffen. Erscheint einem daraufhin im Schlaf der Berg Fuji, ein Falke oder eine Aubergine (ichi Fuji, ni taka, san nasubi), wird dies als besonders gutes Omen für das neue Jahr gewertet.

Warum gerade diese drei Dinge als wünschenswerte Traumbilder gelten, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, und auf der Suche nach Gründen stößt man auf unterschiedliche Erklärungsmodelle. So wird beispielsweise dem mächtigen Heerführer und Begründer des Tokugawa Shogunats TOKUGAWA Ieyasu (1542-1616) dieser Spruch zugeschrieben, mit dem er auf die Frage, worauf er bei seiner Heimatregion Suruga besonders stolz sei, geantwortet haben soll. An anderer Stelle wird die positive Bedeutung des Satzes folgendermaßen erläutert: Der Fuji-san sei der höchste Berg, der Falke der stärkste Vogel, und die Lesung des Zeichens für Aubergine (nasu) entspreche der des Verbs für "vollenden" und implizierte daher ebenfalls Gutes.

Doch nicht jeder Traum muss eine Bedeutung haben. Unterschieden wird zwischen masa-yume, d.h. Träumen, die später in Erfüllung gehen werden, und saka-yume, solchen, die keinen Bezug zur Realität haben und eher in die Kategorie "Träume sind Schäume" fallen. Es gibt Träume, die als Weissagung, als eine Art göttliche Botschaft zu verstehen sind, während die anderen als betrügerische, vom Teufel oder sonstigen bösen Mächten geschickte Illusion eingestuft werden. Noch heute ist die Redewendung asa-yume wa masa-yume geläufig, derzufolge dem Traum am frühen Morgen besonderer Wahrheitsgehalt innewohnt.

Häufig kommen in Träumen Wünsche zum Ausdruck, sei es nach einem Partner, nach beruflichem Erfolg oder nach religiöser Offenbarung. Die Sehnsucht nach einem Partner manifestiert sich oft in Liebesträumen, wie sie uns beispielsweise in Gedichten des Kokin(waka)shu ("Sammlung aus alter und neuer Zeit", kompiliert Anfang des 11. Jhs.) begegnen. Anders als in der Gedichtanthologie Manyoshu ("Sammlung der zehntausend Blätter", 2. Hälfte 8. Jh.) wird im Kokinshu selten der sexuelle Kontakt direkt in Worte gefasst; man drückt sich diskreter aus, die Beziehung scheint im Traum ihren Höhepunkt zu erreichen. Erstmals in der japanischen Literaturgeschichte findet sich hier der Typ des oder der "träumenden Liebenden", wie KATO Shuichi ihn in seiner Literaturgeschichte bezeichnet.

Zwar spricht die für ihre Schönheit und Dichtkunst berühmte japanische Hofdame Ono no Komachi (9. Jh.) in einem ihrer Tanka (32-silbige Kurzgedichte) davon, es sei besser, den Geliebten ein einziges Mal in Wirklichkeit zu treffen als hundertfach im Traum, doch ist dies auch in ihrem Werk eher die Ausnahme. Denn überwiegend thematisiert sie die Begegnung mit dem Geliebten im Traum, beispielsweise in folgenden Versen:

Seit ich im Schlaf
Des Geliebten Bild
Vor mir gesehen,
Hab ich begonnen, das, was man
Träume nennt, zu schätzen.

Bei manchen literarischen Werken - z.B. bei Yume no shiro ("Anstelle von Träumen", 12 Bde.), dem erst 1916 veröffentlichten Hauptwerk von YAMAGATA Banto (1748-1821), oder bei Yume no ukihashi (1960; "Die Traumbrücke") von TANIZAKI Jun'ichiro (1886-1965) - wird bereits am Titel ersichtlich, dass sie sich mit der Traumthematik befassen. Andere hingegen offenbaren dies erst bei der Lektüre, beispielsweise das Sarashina nikki ("Sarashina-Tagebuch", 1060), eines der Hofdamen-Tagebücher der Heian-Zeit, dessen gefühlvolle Verfasserin mehr in ihrer romantischen Traumwelt als in der Wirklichkeit zu leben scheint und offensichtlich dem Alltag nicht ganz gewachsen ist. Nicht zu unrecht wählte daher Ivan Morris für seine Übertragung ins Englische bewusst den Titel "As I crossed the bridge of dreams". 

Der Traum ist eine Vorstellung, die neben Schriftstellern auch Filmregisseure immer wieder gefesselt hat. Somit verwundert es nicht, dass dieser Begriff in einer ganzen Reihe von Filmtiteln zu finden ist, z.B. Yume no ginga ("Traumgalaxie") von ISHII Sogo, Yume no onna ("Traumfrau") von BANDO Tamasaburo, vor allem aber in Yume ("Dreams", 1990) von KUROSAWA Akira. In diesem Werk stellte der weltbekannte japanische Regisseur acht inhaltlich voneinander unabhängige Fantasiegeschichten unverbunden nebeneinander. Der Zuschauer begleitet den Ich-Erzähler - einen Jungen, später einen jungen Mann - und fühlt sich durch die Kraft der Bilder hineingesogen in teilweise fast surrealistisch anmutende Träume, z.B. wenn er zusammen mit dem Protagonisten in eine Leinwand steigt und dem Maler van Gogh begegnet. Unvergesslich ist auch die Traumsequenz im Pfirsichgarten, in der 60 Figuren des Puppenfestes (hina-matsuri) zum Leben erwachen - vermutlich eine Reminiszenz Kurosawas an seine früh verstorbene Lieblingsschwester Momoyo, mit der er als Kind dieses Fest gefeiert hatte. 

Auch in buddhistischen Texten begegnen uns immer wieder Träume. Bedeutende Quellen stellen dabei die Traumaufzeichnungen (muki, yume no ki o.ä.) dar, die einzeln, als Bestandteil einer religiösen Biographie oder in Sammelwerken in Tempelarchiven erhalten sind. Meist stammen sie allerdings aus dritter Hand, und daher kann man nur selten von authentischen Traumnotizen sprechen, wie dies beim "Traumtagebuch" (Yume no ki) des Kegon-Mönchs Myoe (1173-1232) der Fall ist. Weitere große buddhistische "Träumer" waren neben ihm auch Honen (1133-1212), Shinran (1173-1262) und Ippen (1239-1289), und man versuchte, neben eigenen Traumerfahrungen auch von den Kenntnissen, die diese und andere Personen bereits aus Träumen gewonnen hatten, für die religiöse Praxis zu profitieren.

Dabei können die Träume beispielsweise das Vorleben einer Person enthüllen. Weit häufiger sind jedoch prophetische Träume, und gerade hier findet sich eine große inhaltliche Vielfalt. So können sie einem Meister das Nahen eines besonders begabten Schülers und potentiellen Nachfolgers ankündigen, die herausragende Befähigung des Betreffenden bestätigen oder das Ableben des Meisters voraussagen; sie können der Belehrung und damit der Wissensvermittlung dienen, zur Orientierung beitragen, eventuelle Zweifel beseitigen und den Betreffenden dazu ermahnen, seine Ausbildung fortzusetzen. Es kommt ebenfalls vor, dass Krankheiten oder deren Heilung, aber auch konkrete Positionen bzw. berufliche Erfolge prophezeit werden; sie können aber auch als Initialträume fungieren, indem sie dem Träumenden nahelegen, einen ganz neuen Weg einzuschlagen, und damit die Gründung einer neuen Schulrichtung anregen oder sogar legitimieren. Dabei können bekannte Persönlichkeiten im Traum auftreten, um beispielsweise als Vermittler zu fungieren und durch ihre Autorität einer bestimmten Position Nachdruck zu verleihen. Im äußersten Fall ist sogar die Buddhaschau möglich, die dem Betreffenden die Gewissheit verschafft, dass ihm die Hinübergeburt ins Reine Land sicher ist.

Anders und weniger mühevoll als die übliche buddhistische Schulungspraxis, ermöglicht der Traum eine unmittelbarere religiöse Erfahrung, ohne dass man bereits die Erleuchtung erreicht hätte. Es gab bestimmte Orte, an die man sich zurückzog, um dort im Traum eine Antwort auf eine wichtige Frage oder ein akutes Problem zu erhalten. Es fällt auf, mit welcher Selbstverständlichkeit auch hochrangige buddhistische Kleriker in essentiellen Fragen die Traumerfahrung suchten, um eine Lösung zu finden. Die gewünschten Erscheinungen bzw. Träume traten häufig gegen Ende ihrer Klausur in den frühen Morgenstunden auf. Als Interpretationshilfe dienten verschiedene Symbole und Motive, z.B. Spiegel, Pagoden, Lotusblüten, kostbare Kultgegenstände, Gestirne und Lichtstrahlen, weißer Reis stand für das Lotussutra, die Zahl 1 verkörperte Vollkommenheit, die Zahl 5 die fünf Formen der Wiedergeburt usw.

Im Gegensatz zu christlichen Traditionen des frühen Mittelalters im Abendland fehlen in den buddhistischen Quellen weitgehend furchterregende Träume. Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass es derartige Träume in Japan nicht gegeben habe. Doch gehörte es zu den Aufgaben vor allem des Klerus des esoterischen Buddhismus, zur Abwehr negativer Folgen schlechter Träume bestimmte Rituale bei Hofe durchzuführen. Damit wird deutlich, dass Traumerfahrungen und Träume auch "manipuliert" werden können. Es ist dabei nicht nur möglich, schlimme Nachwirkungen schlechter Träume abzuwenden; darüber hinaus gibt es auch gezielte Anleitungen, wie möglichst glückverheißende Träume "produziert" werden können.

Es kommt ebenfalls vor, dass der Traum als Topos bewusst zur Verschleierung zeitkritischer Äußerungen bzw. zur Verbreitung einer politischen oder sozialen Botschaft eingesetzt wurde. Ein Beispiel hierfür ist die "Traumerzählung" (Yume monogatari) des TAKANO Choei (1804-1850), eines Arztes für europäische Medizin. In ihr nahm er unter dem Vorwand, ein Traumerlebnis gehabt zu haben, das er nun schriftlich festhalten wolle, Stellung zu einem damals aktuellen Ereignis, der sog. "Morrison-Affäre". In seiner "Traumerzählung" lieferte er Informationen über England und protestierte gegen die feindselige Haltung der Tokugawa-Regierung bei der Vertreibung ausländischer Schiffe. Falls Takano gehofft hatte, durch die Einbettung seiner Kritik in die Rahmenhandlung eines Traumes den gestrengen Augen der politischen Führung entgehen zu können, hatte er sich getäuscht. 1839 wurde er verhaftet und verurteilt; später gelang ihm zwar die Flucht aus dem Gefängnis, doch konnte er bis zu seinem Tod nur noch im Verborgenen wirken.

Schließlich begegnet uns der Traum in japanischen Mythen und Sagen, von denen ich eine an dieser Stelle kurz zusammenfassen möchte: Einst erzählten zwei Freunde einander ihre Träume. Der eine hatte im Schlaf gesehen, dass er ein Vermögen von oben erhalten werde, der andere, dass es von unten kommen werde. Als Ersterer zufällig beim Umgraben seines Feldes einen Behälter voller Goldmünzen fand, meldete er dies - ehrlich, wie er war - dem Zweiten, damit dieser seinen Schatz heben könne. Dies tat jener auch sofort, aber ohne ein Wort des Dankes. Zuhause angekommen, entdeckte er, dass der Behälter statt Gold nur Schlangen enthielt. Wütend eilte er damit zum Haus des Freundes und schüttete den Inhalt durch eine Öffnung im Dach. Doch im Herabfallen verwandelten sich die Schlangen wieder in Gold, so dass auf den ehrlichen Mann, ganz wie er geträumt hatte, ein Vermögen von oben herabregnete. Auf diese Weise wurde der eine für seine Undankbarkeit bestraft und der andere für seine Ehrlichkeit belohnt.

Wir wünschen Ihnen, dass auch manche Ihrer Träume im neuen Jahr in Erfüllung gehen mögen!

 

 

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