Kultur und Austausch
Spiegel in Japan:
(Japan Forum, März 2001, S. 1)
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" - wie dieses Zitat aus »Schneewittchen« zeigt, ist im Abendland der Spiegel über Jahrhunderte hinweg ein Zeichen für Eitelkeit und tritt in dieser Bedeutung häufig in der bildenden Kunst auf. Doch obwohl der Spiegel (kagami) natürlich auch in Japan im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Utensil der Schönheitspflege geworden ist, ist er nicht in gleicher Weise Ausdruck der Eitelkeit und Putzsucht wie im Westen. Vielmehr wird er frühzeitig als etwas Heiliges verstanden und ist in der Mythologie eng mit der Figur der Sonnengöttin Amaterasu verbunden.
Wie wir aus dem Kojiki (»Aufzeichnungen alter Begebenheiten«, kompiliert 712) erfahren, zählt der Heilige Spiegel (yata no kagami) zu den drei Gegenständen, die Amaterasu ihrem Enkel Ninigi aushändigt, als dieser auf die Erde herabsteigt, um die Herrschaft über Japan anzutreten. Zusammen mit Edelsteinen und Schwert gehört er zu den Reichsinsignien, die dem japanischen Kaiser bei seiner Thronbesteigung feierlich überreicht werden.
Amaterasu legt ihrem Enkel den Spiegel besonders ans Herz und verweist darauf, dass dieser als ein Bindeglied zwischen ihnen fungiert, quasi als eine Art Kontaktmedium. Diese Vorstellung begegnet uns später auch in verschiedenen Märchen. In ihnen wird beispielsweise berichtet, wie jemand sein Spiegelbild für die verjüngte Version eines verstorbenen Elternteils hält, der in dem geheimnisvollen Gegenstand zu leben scheint. Derartige Geschichten sind ein Hinweis darauf, dass in Japan - ähnlich wie in Europa - Spiegel lange Zeit in ländlichen Gegenden kaum bekannt waren und man sich daher dieses Phänomen nicht recht erklären konnte.
Schon in China hatte man Spiegeln magische Bedeutung zugesprochen, und so waren sie als Grabbeigaben Bestandteil des Totenkults. In der Yayoi-Zeit (ca. 300 v.Chr. - 300 n.Chr.) gelangten die ersten Spiegel aus China und Korea zusammen mit anderen Metallwaren nach Japan. Es handelte sich um relativ dicke und schwere, auf einer Seite blankgeriebene Scheiben, die meist aus Bronze bestanden und manchmal auf der Vorderseite mit einer Legierung versehen waren, die das Licht besonders gut reflektierte. Bronze war teuer, und so waren Spiegel in Asien - ähnlich wie in Europa - lange Zeit Luxusgüter, die Macht und Reichtum der städtischen Oberschicht reflektierten. Dies galt auch für Japan, wo Spiegel zuerst im Shintôismus als Kultgeräte Verwendung fanden und dann auch im profanen Bereich als Modeartikel zum Statussymbol wurden.
Es sind verschiedene Formen vertreten, am weitesten verbreitet sind allerdings runde Spiegel. Sie haben entweder einen Knauf auf der Rückseite, durch den eine geflochtene Seidenschnur zum Festhalten gezogen ist, oder werden auf einen Spiegelständer gestellt; wieder andere besitzen an einer Seite eine Handhabe als Griff. Da die runde Form am häufigsten auftritt, ist der Begriff für Spiegel allmählich zu einem Synonym für etwas Kreisförmiges geworden. So bezeichnet kagami beispielsweise den Deckel eines Sake-Fasses oder auch die Reiskuchen, die zu Neujahr als glückverheißende Dekoration und als Opfergabe dienen (kagami-mochi).
Auf ihrer Rückseite sind die Spiegel oft mit reichem Dekor (Metallrelief, Lack, Perlmutt, Malerei, Lack o.ä.) versehen. Zuerst dienten aus China und Korea importierte Spiegel als Vorlage für japanische Produkte. In der Nara-Zeit (8. Jh.), als der kulturelle Einfluss Chinas auf Japan seinen Höhepunkt erreichte, waren dies vor allem die Spiegel der chinesischen Tang-Zeit (618-906) mit ihren eher schweren, symmetrischen Füllmustern, wie zahlreiche kunstvolle Beispiele in der Schatzkammer (Shôsôin) des Tôdaiji in Nara belegen. Doch in der Heian-Zeit (794-1192) lösten sich die Spiegel deutlich von ihren kontinentalen Vorbildern und entwickelten einen japanischen Typus (wakyô): Sie wurden kleiner, leichter und handlicher, die Muster wandeln sich zu verspielten Naturbildern mit luftig-grazilen Pflanzen- und Vogelmotiven, die die gesamte Rückseite bis zum äußersten Rand bedecken. Es sind Objekte höchster handwerklicher Kunstfertigkeit, die zugleich den ausgefeilten ästhetischen Geschmack ihrer adligen Auftraggeber zum Ausdruck bringen. Ebenfalls exquisite Kunstobjekte sind die oft zu einem edlen Kosmetikset gehörenden Spiegelkästen (kagami-bako), bei denen es sich häufig um Lackarbeiten mit Schnitz- oder Golddekor handelt. In der Holzschnitzkunst der Edo-Zeit (1603-1868) wiederum begegnen uns die sog. "Spiegel-Serien", bei denen die abgebildeten Köpfe von Schauspielern oder sonstigen bekannten Persönlichkeiten in runden, spiegelförmigen Portraitmedaillons dargestellt sind.
Auch in die Literatur hat der Begriff des Spiegels Eingang gefunden. Im europäischen Mittelalter gehörten "Spiegel" - vor allem in ihrer lateinischen Bezeichnung (speculum) - zu den häufigsten Titeln überhaupt. Der Spiegel stand hier für Selbsterkenntnis und Weisheit, und dementsprechend hatten die Werke meist didaktischen Charakter und präsentierten Wissen oder stellen eine bestimmte Tugend musterhaft dar. In China war der Gedanke ebenfalls geläufig, dass Geschichte als Spiegel für die Gegenwart fungiere und als Anleitung für Herrscher bzw. Staatsmänner dienen könne. Doch ist diese Konzeption in Japan weniger präsent: Obwohl kagami auch für "Vorbild" stehen kann - meist jedoch mit einem anderen Zeichen geschrieben -, finden sich in der älteren japanischen Literatur relativ wenige Werke, die das Wort "Spiegel" im Titel führen.
Das Bekannteste der kagami-mono heißt Ôkagami ("Großer Spiegel", 11./12. Jh.) und gehört - wie Imakagami, Mizukagami und Masukagami - zur Literaturgattung der rekishi monogatari ("Geschichtserzählungen"). Diese stammen - anders als die auf offiziell-kaiserlichen Befehl verfassten »Sechs Reichsgeschichten« - aus der Feder unabhängiger Autoren, die sich darum bemühten, Geschichte in akzeptabler literarischer Form zu präsentieren. Sie schrieben in japanischer Silbenschrift, verbanden reale historische Geschehen mit fiktiven Aspekten der Literatur und nahmen zahlreiche Anekdoten in ihr Werk auf. Thematisch konzentrierten sie sich bei ihrer Darstellung der Ereignisse überwiegend auf den privaten Bereich des höfischen Adels. So steht im Mittelpunkt des Ôkagami der Hauptrepräsentant der höfischen Blütezeit, Fujiwara Michinaga (966-1027), dessen Erfolg in den internen Machtkämpfen und seine glanzvolle Position hier ausdrucksvoll gespiegelt werden.