Kultur und Austausch
Winter in Japan:
(Japan Forum, Dezember 2000, S. 1-2)
Das Leben in einem Land wie Japan, das immer wieder bedrohlichen Naturereignissen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Flutwellen (tsunami) und Taifunen ausgeliefert ist, hat mit dazu beigetragen, den Veränderungen der Natur besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sich dem Rhythmus des Jahres anzupassen. Dementsprechend spielen die Jahreszeiten in Japan eine große Rolle, und Hinweise auf sie begegnen einem vielerorts: in den einleitenden Worten eines Briefes und den Jahreszeitenwörtern (kigo) japanischer Gedichte ebenso wie auf Stoffen und Porzellan, im Ikebana-Arrangement und bei der dekorativen Zusammenstellung von Speisen, auf Lackwaren, Hängerollen und Wandschirmen.
Angesichts der Längenausdehnung des japanischen Archipels kann man jedoch in Japan keineswegs von einem einheitlichen Klima sprechen. Im Gegensatz zum subtropischen Okinawa im äußersten Süden ist im Norden auf Hokkaidô der Winter lang, streng und schneereich. Auf der Westseite Zentraljapans stoßen kalte, sibirische Winde über dem Japanmeer auf wärmere Luftmassen, nehmen Feuchtigkeit auf und geben diese in Form starken Schneefalls wieder ab. So gehören die Japanischen Alpen auf Honshu sowie die Bergregionen auf Hokkaidô zu den schneereichsten Gegenden der Welt und bieten ausgezeichnete Wintersportmöglichkeiten. In beiden Gebieten fanden daher bereits Olympische Winterspiele statt: in Sapporo 1972, in Nagano 1998.
Ganz anders präsentiert sich der Winter in Tôkyô, Ôsaka, Kyôto und anderen Städten an der Pazifikküste. Die ehemals kalten Winde aus dem Westen haben sich inzwischen erwärmt und strömen als trockene Luft von den Gebirgsketten herab. Die Temperaturen können hier nachts zwar auf den Gefrierpunkt sinken, tagsüber hingegen ist es oft relativ mild, trocken und sonnig. Gerade für den an das Grau in Grau rheinischer Großstädte gewöhnten westlichen Besucher ist der strahlende Sonnenschein im winterlichen Tôkyô eine wunderbare Erfahrung.
Zur Kennzeichnung des Winters finden sich in der Kunst und Literatur häufig Pflanzen wie die Narzisse, die Kamelie, vor allem aber die ,Drei Freunde der kalten Jahreszeit' (saikan [no] san'yu): Kiefer (matsu), Bambus (take) und Pflaumenblüte (ume, lat. prunus mume, eig. die wilde Aprikose); weitere Motive sind z.B. Wasservögel, Fische und Sperlinge. Ausschlaggebend für die als 'typisch japanisch' angesehenen Naturdarstellungen in Kunst und Literatur waren dabei Klima und Landschaft der Gegend um Nara und Kyôto, die als einstiges Zentrum des Yamato-Reiches den Ausgangspunkt der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung ab der späten Nara- (710-794) und der Heian-Zeit (794-1185) darstellten. Für den japanischen Philosophen Watsuji Tetsurô (1889-1960) ist der schneebedeckte Bambus geradezu "Sinnbild der japanischen Natur", weil dieser gelernt hat, sich dem Klima anzupassen, indem er sich unter der Last des Schnees geschmeidig biegt, ohne zu brechen.
Gegenden mit viel Schnee bezeichnet man als yukiguni (,Schneeland'), ein Begriff, der spätestens durch den gleichnamigen Roman des japanischen Literatur-Nobelpreisträgers Kawabata Yasunari (1899-1972) allgemein geläufig geworden ist. In diesem Werk verbindet der Autor die Handlung so eng mit der Landschaft, daß der Leser die schneebedeckte Umgebung hautnah zu spüren vermeint, z.B. wenn Kawabata schreibt:
[...] Blendend weiß schimmerte der Schnee der Berge dort in dem Spiegel, und mitten darin leuchteten ihre roten Wangen. Es war eine unsagbar reine Schönheit.
Die Sonne stieg bereits, denn der kalt brennende Glanz des Schnees im Spiegel verstärkte sich mehr und mehr. Gleichzeitig wurde das violette Schwarz ihres im Schnee schwebenden Haares immer dunkler. 1
Der helle Schnee vermag der Landschaft eine besondere, heitere Schönheit zu verleihen, die im folgenden Gedicht des Sakanoue no Korenori (gest. ca. 930) aus der Gedichtsammlung Kokin(waka)shu (kompiliert Anfang des 10. Jahrhunderts) sichtbar wird, das auch in die spätere Auswahl Hyakunin isshu übernommen wurde:
Als wär's des Mondes
letztes Licht am frühen Morgen
so hell erglänzen nun
die Hänge hier in Yoshino
im frisch gefallenen Schnee 2
Bei aller Schönheit des Schnees sorgt der Winter doch oft des Nachts für bittere Kälte. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen durch das durchdringende, klare Mondlicht und die kahlen, skeletthaften Äste der Laubbäume, die beim Betrachter das Gefühl großer Verlassenheit hervorrufen. Fällt der Blick dabei auf Mandarinenten - sie stehen für die eheliche Treue und tragen gerade im Winter ein besonders buntes (Hochzeits-)Gefieder -, so wird dem Alleinstehenden seine Einsamkeit noch schmerzlicher bewußt.
Der Winter, vor allem der bleiche Wintermond, symbolisiert den letzten Lebensabschnitt des Menschen: das Alter. Diese Verbindung begegnet uns auch in den Kostümen des Nô-Theaters, deren Dekor sowohl auf die Rolle seines Trägers, als auch auf die Jahreszeit, in der das Stück spielt, Bezug nimmt. So steht ein Gewand, das die Pflaumen- bzw. Aprikosenblüte auf weißer Seide darstellt, für den nahenden Winter und zugleich für das hohe Alter der im Stück verkörperten Person. Angesichts der Kahlheit der Natur ist die Assoziation mit dem Tod ein konsequenter Schritt, wie sie beispielsweise im folgenden tanka (31silbiges Kurzgedicht der Silbenfolge 5-7-5-7-7) des Minamoto no Muneyuki (gest. 1939) anklingt:
Das Dorf in den Bergen -
einsam ist es im Winter
Es scheint, als wären
mit den Gräsern ringsum
auch die Menschen gestorben 2
Dennoch muß die Einsamkeit nicht erzwungen, sie kann auch selbstgewählt sein. Gerade im Winter verbrachten Buddhisten gern einige Zeit in einem Tempel, um dort enthaltsam zu leben und in der Stille zu meditieren - ein Brauch, der noch heute vereinzelt praktiziert wird. So steht der Winter in seiner Kälte auch für innere Klarheit und Reinigung.
Wer heutzutage den Winter in Japan verbringt, nutzt gegen die Kälte gern den noch vielerorts verbreiteten kotatsu, eine in den Boden eingelassene quadratische Vertiefung, bei der ursprünglich Holzkohle, in moderneren Wohnungen Strom als Heizquelle fungiert. Diese Heizmethode wurde schon sehr früh verwendet, wie sich der folgenden Passage aus dem Makura no sôshi (,Kopfkissenbuch', frühes 11. Jahrhundert) entnehmen läßt. Die unter dem Namen Sei Shônagon bekanntgewordene, sehr belesene und literarisch hochbegabte Verfasserin schildert in diesem Werk pointiert Eindrücke und Beobachtungen zum Alltagsleben aus ihrer Zeit als Hofdame bei Kaiserin Sadako (977-1000) und schreibt dabei zum Winter:
Im Winter mag ich die frühe Morgenstunde, besonders dann, wenn es schneit. Ich beobachte so gern die Diener, wie sie draußen, im frostigen, weißgestreiften Morgen, eilig Feuer anfachen und die Becken mit glühender Holzkohle in die Zimmer tragen. Das gehört zu den echt winterlichen Bildern des Palastes der Kaiserin. Aber wenn gegen Mittag die Kälte nachläßt, das Feuer ausgeht und nur noch weiße Asche übrigbleibt, so finde ich diesen Anblick alles andere als erfreulich. 4
Gern geht man vor dem Einschlafen einige Zeit ins heiße Bad, um sich für die Nacht noch einmal aufzuwärmen. Möchte man sich unterwegs aufwärmen, so hilft gegen die Kälte auch der Verzehr der heißen, gebackenen Süßkartoffeln (satsuma-imo), die die durch die Straßen ziehenden Verkäufer abends mit ihrem melodischen Ruf anpreisen, sowie von oden (Gericht aus verschiedensten Zutaten, darunter Rettich, Seetang, Tôfu und Fischpastete, die in einem großen Topf gekocht werden) und ramen (chinesischen Nudeln, in Hühner- oder Schweineknochenbrühe serviert), die man an Straßenständen in der Nähe der Bahnhöfe kaufen kann. Typisch für diese Jahreszeit sind außerdem saba(Makrelen)-sushi und das Topfgericht ankô(Seeteufel)-nabe, die man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man die Annehmlichkeiten des Winters in Japan richtig genießen möchte.